Mythos #31: Das Internet ermöglicht Organisation ohne Organisation.
Sebastian Berg

Mythos: Das Internet bietet eine Form der sozialen und politischen Organisation ohne hierarchische und starre Strukturen. Sinkende Kommunikations‑ und Transformationskosten dank digitaler Technologien ermöglichen eine Bottom-up-Vernetzung, die institutionelle Formen der Politik überflüssig macht, Machtausübung begrenzt und eine radikal demokratische Gesellschaft hervorbringt.

 

Stimmt’s? Die Idee der egalitären und integrativen Gesellschaft ist einer der Gründungsmythen des Internets, wie John Perry Barlow sagt: „Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft.“ (Barlow 1996) (# 28). Von Anfang an ging man davon aus, dass das Internet Werkzeuge oder Plattformen bietet, die einfach zu bedienen sind und die Kommunikation fördern und so auf natürliche Weise die Bildung neuer Gruppen, gegenseitige Zusammenarbeit und die Möglichkeit der Teilnahme ohne formale Organisation fördern (Shirky 2008).

Ungeachtet des Verschwindens von Schranken und Instanzen in vielen Bereichen gilt dies nicht für Hierarchien und (politische) Institutionen per se. Hierzu schreibt Melvin Kranzberg: „Technologie ist weder gut noch schlecht noch neutral.“ Sie lässt sich gestalten und ist Ausdruck der Bedingungen, unter denen sie umgesetzt wird. Jede Infrastruktur muss betrieben, finanziert und in bestehende soziale Strukturen integriert werden, damit „neuere Medienpraktiken in den einander durchdringenden Bereichen von Medien und Politik die Logik älterer Medienpraktiken anpassen und integrieren können“ (Chadwick 2013). Wie schon der Satz „Code ist Gesetz“ (Lessig 1999) (# 3) aussagt, sind internetbasierte Tools im Wesentlichen (dingliche) Institutionen, um die herum Organisation stattfindet. Je nach Architektur der Plattform und den gesellschaftlichen Bildern, nach denen sie gestaltet wurden, weisen sie eine entsprechende strukturierende Wirkung auf.

Der Mythos hat seinen Ursprung in der „kalifornischen Ideologie“, einer Kombination aus anarchistisch-alternativer Gegenkultur und libertärer technologischer Utopie, die die Notwendigkeit formaler Machtstrukturen zugunsten „ungehinderter Interaktionen zwischen autonomen Individuen und ihrer Software“ ablehnt (Barbrook/Cameron 1996). Sie kann als Gründungsmythos der Wirtschaft des Silicon Valley betrachtet werden und hat mit dem Erfolg der großen Internetunternehmen weltweite Akzeptanz gefunden (Turner 2006). Dies sollte jedoch nicht mit dem aktuellen Stand des Internets und der gesellschaftlichen Aneignung digitaler Technologie gleichgesetzt werden. Angesichts fragwürdiger Aussagen über die Bedeutung „der Entwicklung einer sozialen Infrastruktur, um dem Menschen die Macht zum Aufbau einer globalen und für uns alle funktionierenden Gesellschaft zu geben“ (Zuckerberg 2017) sollte nicht verkannt werden, dass die internetbasierte Plattformwirtschaft weder egalitär noch ausschließlich bottom-up oder demokratisch ist, sondern sich durch Zentralisierung, Institutionalisierung und die Einrichtung neuer Schranken auszeichnet (van Dijck/Poell 2018). Da Technologie immer Ausdruck der Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Umsetzung ist, sollte man eher von ideologischer Kritik profitieren als von der Verbreitung von Marketingmythen.

 

Stimmt also nicht! Auch wenn wir einen strukturellen Wandel in der Art der politischen Organisation beobachten können und konnektive Handlungsformen kollektiv ergänzen, sind bisher bestehende (politische) Institutionen wie der Staat, Parteien oder Unternehmen nach wie vor besser in der Lage, sich an die Fortschritte der digitalen Technologie anzupassen. Digitale Instrumente werden eingesetzt, um Organisationen integrativer zu machen und alte Barrieren abzubauen, aber sie werden Organisationen und die Politik nicht ersetzen.

 


Quelle: Clay Shirky, Here Comes Everybody. The Power of Organizing without Organization (London: Penguin Books, 2008); Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture (Chicago/London: University of Chicago Press, 2006).