Mythos #23: Die Menschen informieren sich nur noch über soziale Medien.
Sascha Hölig

Mythos: Viele Menschen, und insbesondere junge Internetnutzer*innen, beziehen ihre Nachrichten ausschließlich über soziale Medien und ignorieren die traditionellen Nachrichtenkanäle. Wir leben in Filterblasen, fallen auf Fake News herein und werden in unserer Entscheidungsfindung durch die Inhalte sozialer Medien manipuliert.

 

Stimmt’s? Richtig ist, dass viele Menschen soziale Medien nutzen. So nutzen beispielsweise 74 Prozent der erwachsenen Internetnutzer*innen in den USA innerhalb einer durchschnittlichen Woche Facebook, Twitter oder Instagram; in Deutschland sind dies 58 Prozent (Reuters Institute Digital News Study 2019). Richtig ist auch, dass manche Menschen, ob zufällig oder nicht, in sozialen Medien auf Nachrichteninhalte stoßen, sei es in weitergeleiteten Artikeln, weil sie von Diskussionen zu aktuellen Themen erfahren, weil sie Werbung von Nachrichtenkanälen erhalten oder weil sie Nachrichtenmedien, Journalist*innen oder Politiker*innen folgen.

Insgesamt informieren sich die Menschen jedoch in erster Linie aus traditionellen Nachrichtenmedien, entweder über die entsprechenden Websites oder Apps im Internet (USA: 43 %; Deutschland: 47 %) oder im realen aktuellen Fernsehen, im Radio sowie aus Zeitungen und Zeitschriften (USA: 69 %; Deutschland: 83 %), die nach wie vor ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. In seinem Nachrichtenkonsum wie in allen anderen Bereichen auch ist der Mensch ein komplexes Wesen. Menschen informieren sich über eine individuell zusammengestellte Kombination verschiedener Nachrichtenkanäle, das sogenannte „Nachrichtenrepertoire“, das oftmals auf einer medienübergreifenden Nutzung basiert.

Für einige Menschen sind soziale Medien definitiv Teil ihres Nachrichtenrepertoires (USA: 46 %; Deutschland: 34 %), aber nur für wenige Nutzer*innen sind sie die wichtigste Nachrichtenquelle (USA: 18 %; Deutschland: 10 %), und nur für eine kleine Minderheit von Menschen, die keinerlei Interesse an Hard News haben, sind sie die einzig genutzte Nachrichtenquelle (USA: 5,6 %; Deutschland: 2,7 %). Bei dieser Verteilung gibt es kaum Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Altersgruppen. Obwohl ältere Nutzer*innen ein etwas stärkeres Interesse an Nachrichten über die Welt haben als jüngere, beziehen auch junge Nutzer*innen ihre Informationen aus verschiedenen Nachrichtenquellen und verfolgen vor allem altersspezifische Interessen in sozialen Medien.

Eine Vielzahl von Studien belegt, dass soziale Medien vor allem genutzt werden, um Informationen über die neuesten Entwicklungen im Freundes‑ und Bekanntenkreis zu erhalten und auszutauschen, nicht aber, um allgemeine Nachrichten zu konsumieren oder explizit danach zu suchen. Soziale Medien werden nicht als geeigneter Ort für Nachrichten wahrgenommen, und der großen Vielfalt der Akteure, die dort Nachrichten verbreiten, wird wenig Vertrauen entgegengebracht. Von daher sind Nachrichten in sozialen Medien für die meisten Menschen aller Altersgruppen lediglich ein unvermeidlicher „Beifang“.

Nutzer*innen, die sich aktiv für den Bezug von Nachrichten aus sozialen Netzwerken entscheiden, sind in der Gesamtgruppe der Nutzer*innen in der Minderheit. Nutzer*innen, die Nachrichten-Websites, Journalist*innen und Politiker*innen folgen, sind in der Regel in besonderem Maß an aktuellen Themen interessiert und nutzen ein besonders breites und vielfältiges Nachrichtenrepertoire zahlreicher Nachrichtenanbieter, auch außerhalb der sozialen Medien.

Richtig ist, dass sich einige Menschen zwar aus sozialen Medien informieren, diese aber in der Regel keine gezielt ausgewählte oder die einzige Informationsquelle sind. Der Glaube, dass sich vor allem junge Menschen ausschließlich über soziale Medien informieren, ist nichts anderes als ein sich hartnäckig haltender Mythos.

 

Stimmt also nicht! Auch wenn soziale Medien im Leben vieler Menschen eine wichtige Rolle einnehmen, werden sie in der Regel nicht zum Zweck der Informationsbeschaffung genutzt. Nachrichten sind eher eine Art unvermeidlicher Nebennutzen für auf sozialer Medien Aktive. Die überwiegende Mehrheit der Internetnutzer*innen aller Altersgruppen verwendet traditionelle Nachrichtenkanäle on‑ und offline und nur eine kleine Minderheit der Nutzer*innen von sozialen Medien beschränkt ihren Nachrichtenkonsum auf diese Plattformen.

 


Quelle: Uwe Hasebrink und Sascha Hölig, Deconstructing Audiences in Converging Media Environments, in Sergio Sparviero, Corinna Peil, Gabriele Balbi (Hrsg.), Media Convergence and Deconvergence (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2017), 113‑133. doi: 10.1007/978-3-319-51289-1_6; Nic Newman, Richard Fletcher, Antoins Kalogeropoulos, Rasmus Kleis Nielsen, Reuters Institute Digital News Report 2019 (University of Oxford: Reuters Institute for the Study of Journalism, 2018), www.digitalnewsreport.org.