Mythos #33: Der Cyberspace ist von der „realen Welt“ vollkommen losgelöst.
Daniel Lambach

Mythos: Gegründet auf einer Logik des Internetexzeptionalismus, ist „das Internet“ ein sich von der „realen Welt“ unterscheidender Raum. Der „Cyberspace“ und die reale Welt aus Fleisch und Blut („meatspace“) sind zwei verschiedene Welten, die von unterschiedlichen Logiken, Strukturen, Normen und Akteuren bestimmt werden oder zumindest werden sollten.

 

Stimmt’s? Künstlerische Darstellungen des Cyberspace zeigen ihn als singulären Raum mit eigener Topografie und Grenzen, vielleicht als Kontinent, U-Bahn-Netz oder Netzwerk-Wolke (# 35, # 37). Diese Darstellungen implizieren, dass sich der Cyberspace – als Raum – von der „realen Welt“ unterscheidet. Nirgendwo wurde dies stärker zum Ausdruck gebracht als in dem kühnen Aufruf in der Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace (Barlow 1996): „Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes.“ Die Techno-Utopist*innen bezeichneten den Cyberspace gerne als das „Land hinter dem digitalen Horizont“ und beriefen sich dabei bewusst auf die Bilder der Besiedlung des amerikanischen Grenzlands als ein Land der Möglichkeiten, das frei von staatlichen Eingriffen ist. Solche räumlichen Metaphern sind nach wie vor sehr verbreitet. Auch Angela Merkel bezeichnete das Internet bekanntlich als „Neuland“. Da sich unsere Kognition auf dreidimensionales Sehen konzentriert, denken wir zunächst automatisch in räumlichen Metaphern. Räumliche Bilder zur Charakterisierung des Cyberspace vertragen sich zwar nicht mit der Netzwerkstruktur des Internets, sind aber dadurch nicht weniger mächtig (Lambach 2019).

Diese Vorstellung vom Cyberspace weist jedoch zwei wesentliche Mängel auf. Erstens ist der Cyberspace kein singulärer Ort, eine zweidimensionale digitale Fläche, sondern vielmehr eine komplexe Ansammlung von „Cyberterritorien“, geschaffen von Staaten, Unternehmen und Nutzer*innen. Staaten schaffen „nationale Segmente“ des Internets, beispielsweise durch Gesetze zur Datenlokalisierung, parallele Adressierungsinfrastrukturen und robuste Cyberabwehrkonzepte (# 38). Unternehmen schaffen nach ihren internen Gemeinschaftsstandards und Content-Management-Richtlinien Walled Gardens oder Ökosysteme, in denen sie ihre Produkte verkaufen oder die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen auf Werbung lenken. Nutzer*innen erstellen kleine und anpassungsfähige Territorien durch Online-Communitys oder Chat-Gruppen. Diese Territorien überschneiden sich, kollidieren miteinander und verschieben sich. Normative Konflikte gibt es im Überfluss: So gibt es beispielsweise zahllose Möglichkeiten, die rechtliche Haftung für Onlineäußerungen an der Schnittstelle von politischen und ökonomischen „Territorien“ im Internet zu regeln (# 6).

Zweitens gibt es keine Unterscheidung mehr zwischen einem „Online‑“ und einem „Offline“-Raum, falls sie denn überhaupt jemals existiert hat. Der Cyberspace gelangt durch Smartphones, optische Displays, Internet-der-Dinge-Geräte und andere immer allgegenwärtigere Artefakte in die „reale Welt“. Die soziale Kommunikation wird zu einem immer stärker verknüpften Komplex aus technologisch vermittelten Kontakten und persönlicher Interaktion. Die „reale Welt“ gelangt durch Geolokalisierungstechnologien in den Cyberspace, was den Charakter des Internets grundlegend verändert. Diese Trends integrieren physische Orte und Onlineräume zu einem neuen hybridisierten Ganzen und schwächen damit den Gedanken des Internetexzeptionalismus noch weiter.

 

Stimmt also nicht! Der Cyberspace ist kein singulärer Raum, sondern vielmehr eine Reihe sich überschneidender, widersprüchlicher und sich verschiebender „Cyberterritorien“. Darüber hinaus wird die Trennung von Cyberspace und „realer“/Offlinewelt mit zunehmender Allgegenwärtigkeit des Computers immer obsoleter. Das Internet ist letztlich doch kein Raum der Ausnahmen.

 


Quelle: John Perry Barlow, A Declaration of the Independence of Cyberspace (1996), https://projects.eff.org/~barlow/Declaration-Final.html; Daniel Lambach, The Territorialization of Cyberspace, International Studies Review (2019), https://doi.org/10.1093/isr/viz022 oder https://www.researchgate.net/publication/308720083_The_Territorialization_of_Cyberspace.