Mythos #34: Es gibt kein „dort“ im Internet.
Martin Dittus, Sanna Ojanperä und Mark Graham

Mythos: Das Internet ist ein „globales Dorf“, das die Welt zu einem einzigen globalen Marktplatz und einer sozialen Sphäre zusammenschrumpfen lässt, in der sich alle treffen und alle Zugang zu denselben Leistungen haben. Diese „virtuelle Welt“, der Cyberspace, ist ein gemeinsamer Ort, der von allen Orten der realen Welt getrennt ist.

 

Stimmt’s? Heute lässt sich nicht mehr behaupten, dass das „Virtuelle“ eindeutig vom „Realen“, das „Offline“ vom „Online“ zu unterscheiden ist (# 33). Heute, wo über die Hälfte der Menschheit Zugang zum Internet hat, wird der größte Teil unseres Lebens von digitalen Informationen begleitet, die unsere tägliche Erfahrung ergänzen und unser Verständnis von der Welt und unser Handeln in der Welt prägen, egal, wo auf der Welt wir uns befinden. Zum Teil ist diese Erweiterung der globalen Konnektivität das Ergebnis räumlicher Prozesse: durch die Verlegung neuer Seekabel, die Kontinente verbinden, und durch die Schaffung neuer regionaler Netzwerke, die das Zuhause und den Arbeitsplatz mit einem Breitbandanschluss versorgen.

Gleichzeitig bleiben viele Regionen der Welt außen vor, insbesondere ländliche und abgelegene Gebiete. Darüber hinaus ist eine starke globale Ungleichheit bei den Kosten der Konnektivität (# 36) festzustellen: In etlichen Ländern übersteigen die Kosten für einen Breitbandanschluss immer noch das monatliche Durchschnittseinkommen der Bevölkerung. Als Ergebnis dieser Barrieren besteht ein globales Ungleichgewicht hinsichtlich der digitalen Partizipationsmöglichkeiten, d. h. der Fähigkeit, online am Leben teilzunehmen und es zu gestalten. Die daraus resultierenden Rückkopplungsschleifen führen zu Ungleichheiten in der Abdeckung: In vielen Regionen der Welt sind digitale Informationen auf Onlinewissensplattformen noch nicht in der jeweiligen Landessprache verfügbar. Trotz der Bemühungen von Wikipedia und der Wikipedia-Ausgaben in 300 Sprachen sind die detailliertesten Darstellungen der Länder der Südhalbkugel oft in einer nicht-lokalen Sprache, typischerweise auf Englisch, verfasst, und Inhalte über diese Länder werden vielfach von Redakteur*innen in Nordamerika und Europa produziert (# 18).

In gewissem Maße sind diese digitalen Disparitäten Ausdruck der bestehenden wirtschaftlichen Disparitäten (# 39). Gleichzeitig sehen wir heute, nachdem das frühe Internet zunächst im Wesentlichen auf Nordamerika konzentriert war, die Herausbildung eines Pluriversums paralleler digitaler Kulturen. In vielen Regionen der Welt sind Plattformen entstanden, die nicht Teil des westlichen Kanons sind. Dazu gehören WeChat und Alibaba in China, Grab und Shopee in Südostasien, Flipkart und Reliance Jio in Indien, MercadoLibre und Universo Online in Lateinamerika und viele mehr. In naher Zukunft ist ein weiteres Wachstum der nichtwestlichen digitalen Partizipation absehbar, wobei Asien der wichtigste Treiber ist und Afrika erhebliches Potenzial für weiteres Wachstum aufweist. Umgekehrt wird es für die „globalen“ Plattformgiganten Google, Apple, Facebook, Amazon, Netflix und andere immer schwieriger, sich an einige dieser Märkte in Schwellenländern anzupassen.

 

Stimmt also nicht! Das Internet ist kein globales Dorf, sondern ein Netzwerk, das das Leben an vielen Orten bereichert. Um zu verstehen, wie „das Internet“ aussieht, müssen wir mit Dutzenden globaler Kulturen vertraut sein. Internetforscher betrachten immer nur bestimmte digitale Umgebungen. Entfernung spielt nach wie vor eine Rolle, und dies wird auch künftig so bleiben.

           


Quelle: Mark Graham, Geography/internet: ethereal alternate dimensions of cyberspace or grounded augmented realities?, The Geographical Journal, 179(2) (2013), 177‑182, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2166874; Sanna Ojanperä, Mark Graham, Ralph Straumann, Stefano De Sabbata, Matt Zook, The Geography of Engagement in the Knowledge Economy: Regional Patterns of Content Creation, Information Technologies in International Development 13 (2017), 33‑51; https://lra.le.ac.uk/handle/2381/40079.