Mythos #45: Die Privatsphäre ist tot.
Paula Helm mit Tobias Dienlin, Johannes Eichenhofer und Katharina Bräunlich

Mythos: Privatheit ist tot. Die Privatsphäre ist neuen soziotechnischen Phänomenen wie beispielsweise wahlloser Massenüberwachung, der Bedeutungslosigkeit von Kontext, Smartphones, Wearables, sozialen Medien und dem Internet der Dinge zum Opfer gefallen. Den Menschen ist dies allerdings gleichgültig: Sie nutzen Dienste, die darauf programmiert sind, Daten zu sammeln, tauschen große Datenmengen gedankenlos aus und kümmern sich nicht darum, ob sie zu vollkommen gläsernen Menschen werden.

 

Stimmt’s? Die Privatsphäre wurde schon mehrfach für tot erklärt. Im Jahr 1874 veröffentlichte die Times (London) den Artikel The Abolition of Privacy“. 1909 schrieb die Washington Post, dass „es auf der Welt nur noch ein Versteck gibt: der Südpol […].“ 1999 sagte Scott McNealy (von Sun Microsystems): „Sie haben bereits null Privatsphäre – finden Sie sich damit ab.“ In diesen und vielen weiteren Publikationen wurde die Privatsphäre wegen einer Reihe weitreichender gesellschaftlicher und technologischer Veränderungen wie der Erfindung des Fotoapparats oder des Internets für tot erklärt. Angesichts dieser scheinbaren Todesnähe und der neuesten technologischen Entwicklungen dürfte dies wohl das Ende des Privaten sein?

Ganz gewiss nicht. Das oben Erwähnte zeigt vor allem eines: der Wunsch nach Privatheit ist unsterblich. Richtig ist, dass das Private dank des Internets, Big-Data-Technologien und der Verbreitung von Smartphones und des Internets der Dinge heute kommerzialisiert, verkauft, gehandelt, ausgebeutet, vernachlässigt und aufgegeben wird. Dies war jedoch in unterschiedlichem Maße schon immer so. Die Abschaffung der Privatsphäre war niemals vollständig. Die Menschen haben immer wieder Wege gefunden, sich voneinander, von politischen Organen und von Unternehmen abzugrenzen, weil Privatsphäre die Voraussetzung für ihre persönliche Autonomie, psychische Integrität und ihre Fähigkeit zum Aufbau persönlicher Beziehungen ist.

Es wird behauptet, dass die Menschen heute ihre Privatsphäre bereitwillig aufgeben, jedoch ist das so nicht richtig. Zahlreiche empirische Studien belegen, dass die Menschen tatsächlich im Interesse ihrer Privatsphäre handeln, und zwar auch in den sozialen Medien. Je mehr Sorgen sie sich darüber machen, desto weniger Informationen teilen sie. Dabei stehen sie jedoch vor immer schwierigeren Entscheidungen im Spannungsfeld zwischen der Befolgung starker Imperative in Bezug auf Teilen und Konnektivität einerseits und ihrem Wunsch nach Privatsphäre andererseits.

Aus gesellschaftlicher Sicht funktioniert die Privatsphäre heute vermutlich stärker denn je auch als demokratische Kraft. Wenn Privatsphäre von politischen Gruppen und Verfechter*innen kommunikativer Autonomie eingefordert wird, bedeutet dies, dass das Private letztlich als gesellschaftliche Praxis vorgegeben wird (# 14), die für den Schutz einer lebendigen demokratischen Kultur, in der unterschiedliche Meinungen nebeneinander bestehen und gewürdigt werden, unerlässlich ist. Um diese Kultur zu erhalten, bedarf es einer stärkeren Unterstützung von Technologien zur Verbesserung des Schutzes der Privatsphäre, darunter beispielsweise anonyme Webbrowser wie TOR, die bereits existieren, aber optimiert und als Standard etabliert werden müssen. (# 17).

 

Stimmt also nicht! In einigen Bereichen und insbesondere für benachteiligte Menschen ist der Schutz der Privatsphäre kompliziert. Es ist in der Tat bedenklich, wenn die Privatsphäre und die von ihrem Schutz abhängigen Werte wie politische Freiheit, gesellschaftlicher Zusammenhalt und persönliche Autonomie zu Luxusgütern werden. Als Reaktion auf die in letzter Zeit zu beobachtende Prekarität des Privaten wird diesem seit einiger Zeit jedoch wieder große Aufmerksamkeit gewidmet. Sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft erlebt das Private eine Renaissance als gesellschaftliche Praxis und als politischer Wert.

 


Quelle: Paula Helm, Johannes Eichenhofer, Reflektionen zu einem social turn in den privacy studies, in  Martin Hennig et al. (Hrsg.) Digitalität und Privatheit (Bielefeld: Transkript, 2019), 139‑165; Tobias Dienlin, Miriam Metzger, An extended privacy calculus model for SNSs – Analyzing self-disclosure and self-withdrawal in a representative U.S. sample, Journal of Computer-Mediated Communication, 21 (2016), 368‑383, https://doi.org/10.1111/jcc4.12163.