Mythos #25: Fake News sind ein ernstes Problem.
Tommaso Venturini
Mythos: Digitale Medien sind in den letzten Jahren zu einem Raum für die Verbreitung aller Arten von Fehlinformationen geworden. Gesellschaftliche und politische Akteure haben für unlautere Zwecke und bewusst als Mainstream-Nachrichten getarnte Desinformationskampagnen eingesetzt, um erlogene oder falsche Ideen zu verbreiten und so die öffentlichen Debatten durch falsche Fakten zu verzerren.
Stimmt’s? Da digitale Medien und das Internet zu entscheidenden Schauplätzen für die öffentliche Diskussion werden, werden Fehlinformationen im Internet zu einem ernstzunehmenden gesellschaftlichen Problem. Gleichwohl ist der Begriff „Fake News“ eine sehr unzutreffende Bezeichnung für dieses Phänomen und leitet unsere gesellschaftlichen Reaktionen eher in die Irre als in die richtige Richtung. Inzwischen kann man alles als „Fake News“ bezeichnen, und der Begriff wird von Politiker*innen routinemäßig auf ihnen nicht genehme Nachrichten angewandt. Wir müssen uns daher vor diesem Begriff hüten: Fake News ist ein extrem vager Begriff und wurde für Phänomene genutzt, die ein breites Spektrum abdecken wie echte Nachrichten, Satire, Parodie, Dichtung, Manipulation, Clickbaiting (# 24), Verschwörungstheorien und verschleierte kommerzielle Inhalte. In Ermangelung einer strikten Definition kann der Begriff von politischen und sozialen Akteuren als rhetorische Waffe zur Diskreditierung von Informationsquellen eingesetzt werden, die eine andere Meinung vertreten. Auch wenn Fake News ein aktuelles Problem sein soll, das mit dem Aufkommen der digitalen Medien zusammenhängt, lässt es sich aufgrund des vagen Begriffsinhalts von „einseitigen, die öffentliche Diskussion beeinflussenden Informationen“ nicht von herkömmlicher Propaganda unterscheiden.
Der Begriff steht am Beginn einer „Ära des Postfaktischen“; er setzt eine simplifizierende Unterscheidung zwischen wahr und falsch voraus und leugnet das Wesen journalistischer Vermittlung, deren Wert nicht allein an der Übereinstimmung mit den berichteten Fakten gemessen wird, sondern auch an der Fähigkeit, komplexe Sachverhalte für ein Publikum mit immer kürzerer Aufmerksamkeitsspanne verständlich zu machen. Schließlich und vor allem impliziert der Begriff, dass „Fake News“ traditionellen Nachrichten ähneln und dass ihr Hauptziel darin besteht, Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Dies ist manchmal, aber nicht immer der Fall: Viele Fehlinformationen werden auf Satireseiten veröffentlicht, die den Umstand ihrer Unwahrheit offen zugeben, oder von Nachrichtenquellen, die ihre ideologischen Tendenz nicht verhehlen; oftmals handelt es sich auch nur um eine ins Auge fallende Überschrift, die den Leser dazu verleiten soll, auf ein Banner zu klicken oder eine Seite zu öffnen.
Während manche Fehlinformationen im Internet tatsächlich das Ziel verfolgen, ihre Leser zu täuschen (beispielsweise im Fall strategischer Desinformationskampagnen), ist dies selten der einzige oder ihr Hauptzweck. Nicht die Fake News selbst, sondern die Geschwindigkeit ihrer Verbreitung und die durch sie erzeugte Aufregung sind das Charakteristikum dieser Art von Informationen, die man treffender als „Junk News“ bezeichnen sollte. Genau wie Junk Food werden digitale Fehlinformationen konsumiert, weil sie süchtig machen, und nicht, weil sie als informativ oder als intellektuell wertvoll betrachtet werden. Zur Klarstellung muss jedoch festgehalten werden, dass die Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Falschheit auf Verbreitung und Irreführung die Bedrohung durch Junk-Inhalte nicht weniger relevant macht. Vielmehr sind diese Inhalte umso gefährlicher, da sie nicht einfach dadurch, dass sie als Fehlinformation entlarvt werden, entschärft werden können.
Stimmt also nicht! Die Vorstellung, dass „Fake News“ die Hauptbedrohung für die öffentliche Diskussion im Netz darstellen, ist selbst eine Art „Fake News“. Die Bedrohung durch digitale Fehlinformationen besteht im systemischen Qualitätsverlust der öffentlichen Diskussion durch immer kürzere Aufmerksamkeitsspannen und die Inflation von Informationsagenden. Die meisten Inhalte von „Fake News“ sind eigentlich „Junk News“, was sie jedoch nicht weniger gefährlich, sondern nur schwieriger zu entlarven macht.
Quelle: Henry Jenkins, Sam Ford und Joshua Benjamin Green, Spreadable Media (New York: New York University Press, 2013); Tommaso Venturini, From Fake to Junk News, the Data Politics of Online Virality, in Didier Bigo, Engin Isin, and Evelyn Ruppert (Hrsg.), Data Politics: Worlds, Subjects, Rights (London: Routledge, 2019).