Mythos #26: Heutzutage sind wir alle Journalist*innen und Berichterstatter*innen.
Michael S. Daubs

Mythos: Das Internet ermöglicht es den Bürger*innen, nutzer*innengenerierte Inhalte zu veröffentlichen und Nachrichten mitzugestalten, die Kontrollmechanismen traditioneller Nachrichtenorganisationen zu umgehen und so den Journalismus zu demokratisieren.

 

Stimmt’s? Ende der 1990er Jahre entstanden nutzer*innengeleitete Websites für Graswurzeljournalismus wie beispielsweise Indymedia, die den Bürger*innen die Möglichkeit boten, „selbst Presse zu werden“, indem sie nutzer*innengenerierte Inhalte in Form von Graswurzeljournalismus generierten und verbreiteten. Blogs und Social-Networking-Sites wie Facebook, YouTube und Twitter folgten ebenso wie Portale für Graswurzeljournalismus von Nachrichtenorganisationen, wie beispielsweise iReport von CNN. Diesen Plattformen wurde vielfach die Demokratisierung des Journalismus zugeschrieben (# 28). Diese Sicht ist Ausdruck weiter gefasster Theorien des Inhalts, dass die digitalen Medien ein „demokratisches Streben fördern, um mehr Menschen die Schaffung und Verbreitung von Medien zu ermöglichen“ (Jenkins 2006).

Die Darstellung, dass nutzer*innengenerierte Inhalte von Natur aus demokratisierende Wirkung haben, verkennt jedoch die komplexen Beziehungen zwischen Nutzer*innen und traditionellen journalistischen Institutionen. Die Fähigkeit zur Generierung und zum Austausch von Informationen garantiert nicht notwendigerweise den Zugang zu einem Publikum. Darüber hinaus fehlen vielen Graswurzeljournalist*innen die Ausbildung, die Fähigkeit zur Verifizierung von Fakten, Möglichkeiten der redaktionellen Überprüfung sowie die Motivation traditioneller Journalist*innen. So schaffen einige Graswurzeljournalist*innen beispielsweise nutzer*innengenerierte Inhalte, die eher einer Meinungsäußerung und einem Kommentar entsprechen und nicht explizit politischer Natur sind. Sharon Docter (2010) stellt fest, dass in der Argumentation gegen eine Anerkennung von Blogger*innen als Journalist*innen selten gesagt wird, dass „Blogger*innen nicht so zur Öffentlichkeit beitragen, wie es professionelle Journalist*innen tun“, diese Faktoren aber zu einer beständigen Diskussion darüber geführt haben, ob Graswurzeljournalist*innen denselben besonderen Schutz wie traditionelle Journalist*innen genießen sollten, darunter beispielsweise Schutzgesetze, aufgrund derer Journalist*innen nicht zur Offenlegung vertraulicher Quellen und unveröffentlichter Notizen gezwungen werden können.

Es gibt mithin viele Gründe, den Mythos zu hinterfragen, dass das Internet den Journalismus demokratisiert habe. Darüber hinaus stellt John T. Caldwell (2004) fest, dass sich das Fernsehen „als widerstandsfähig erwiesen hat, wenn es sich an eine Reihe grundlegender wirtschaftlicher, technologischer und kultureller Veränderungen anpasst“. Traditionelle Nachrichtenorganisationen haben beispielsweise zunehmend nutzer*innengenerierte Inhalte in ihre Berichterstattung integriert, anstatt sie als Bedrohung wahrzunehmen. Darüber hinaus leisten einige Graswurzeljournalist*innen, die eine Zukunft als professionelle Journalist*innen planen, journalistische Arbeit in erheblichem Umfang in der Hoffnung, ihre Fähigkeiten und zukünftigen Berufsaussichten zu verbessern. Journalistische Institutionen profitieren nur zu gerne von dieser unbezahlten Leistung, die bisweilen als „Hope Labour“ (Kuehn und Corrigan 2013) oder „Aspirational Labour“ (Duffy 2017) bezeichnet wird, da sie ihnen ermöglicht, Geld zu sparen, nutzer*innengenerierte Inhalte zu steuern und ihre „gesellschaftliche Macht zur Gestaltung der Themen“ zu bewahren (Andrejevic 2004).

 

Stimmt also nicht! Da traditionelle journalistische Institutionen eine privilegierte Position hinsichtlich der Auswahl und Kontextualisierung der Beiträge von Nutzer*innen einnehmen, stärken im Internet veröffentlichte nutzer*innengenerierte Inhalte in Form von Graswurzeljournalismus oftmals die Autorität, Macht und Zentralität dieser Organisationen und ihrer Journalist*innen und führen keineswegs zu einer Demokratisierung des Journalismus.

 


Quelle: Michael S. Daubs, The Social News Network: The Appropriation of Community Labour in CNN‘s iReport, The Political Economy of Communication, 3.2 (2015), 55‑73; Sara Platon und Mark Deuze, Indymedia Journalism: A Radical Way of Making, Selecting and Sharing News?, Journalism 4.3 (2003), 336‑55.