Mythos #06: Online kann man sagen, was man will.
Emily Laidlaw

Mythos: Das Internet ist ein Freiraum, in dem Hate Speech, Verleumdung und andere Formen des Missbrauchs ohne Einschränkung und Konsequenzen möglich sind. Wenn Nutzer*innen beispielsweise in sozialen Netzwerken Beleidigungen veröffentlichen, ist diese Äußerung geschützt, ohne dass es irgendwelche juristischen oder sonstigen Möglichkeiten gäbe, diesem Verhalten entgegenzutreten.

 

Stimmt’s? Was online gesagt wird, wird auf vielfältige Weise eingeschränkt, beispielsweise durch Gesetze, Normen, gesellschaftliche Standards, Interessenverbände, künstliche Intelligenz und den Markt. All diese verschiedenen Regulierungsformen bilden das Governance-System für Äußerungen im Internet (# 1, # 2). Der zentrale konzeptionelle Anknüpfungspunkt bei diesem System sind die Menschenrechte (ungeachtet der sehr kontroversen Diskussion, wie die Menschenrechte in schwierigen Fällen abzuwägen sind). Menschenrechtsabkommen schützen das Recht auf freie Meinungsäußerung als unveräußerlichen Bestandteil einer freiheitlichen Demokratie, unsere Vorstellung von Menschenwürde und Selbstbestimmung sowie dem Streben nach Wahrheit. Dieses Recht bringt jedoch auch Verantwortung mit sich, darunter beispielsweise die Verpflichtung, die Rechte anderer und ihren Ruf zu achten und die nationale Sicherheit, öffentliche Ordnung, öffentlichen Gesundheit oder Moral nicht zu gefährden.

Dieses Konzept von Meinungsfreiheit und Verantwortung gilt für alle Ebenen des Governance-Systems in der Onlinewelt. Staaten regeln die Meinungsfreiheit in der Regel in ihrer Verfassung. Straf‑ und Zivilrecht verbieten bestimmte Formen der Meinungsäußerung, die als besonders schädlich für die Gesellschaft angesehen werden, darunter beispielsweise Aufstachelung zum Hass, Förderung von Völkermord, Verleumdung oder Aufruf zum Terrorismus. Eine besondere Schwierigkeit bei Internet-Kommunikation besteht darin, dass die Täter oft schwer greifbar sind (# 5), sei es, weil sie sich außerhalb der jeweiligen Gerichtsbarkeit befinden oder anonym (wenn auch oftmals identifizierbar) posten und die Äußerungen über einen privaten Intermediär getätigt werden. So eignen sich eignen sich traditionelle staatliche Regulierungsansätze eher weniger zur Eindämmung gesetzeswidriger Äußerungen.

Die Vollzugshindernisse sich jedoch durch andere Formen von – teils innovativen, teils durchaus auch wenig zielführenden – Vorschriften schließen. So schaffen die Nutzungsbedingungen für Social-Networking-Plattformen eigene Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, beispielsweise im Fall von Nacktdarstellungen oder extremer Gewalt. Zunehmend wird hierbei künstliche Intelligenz eingesetzt, um durch Erkennen und Entfernen von Inhalten die Einhaltung der Vorschriften zu gewährleisten. Auf einigen Websites regeln deren Nutzer*innengemeinschaften selbst die Sprachwahl mithilfe informeller sozialer Normen, unter anderem über Moderatoren, wobei dies allerdings auch wieder andere Formen von Hassrede (hate speech) befördern kann. Die Zivilgesellschaft und Nutzer*inngengemeinschaften nehmen Einfluss auf Äußerungen, indem sie auf die jeweiligen Plattformanbieter einwirken, bestimmte Inhalte oder Gruppen zu entfernen oder zu suspendieren. Ebenso regelt auch der Markt die Sprache, indem er den Nutzer*innen Alternativen bietet, soweit er nicht durch technische Dominanz und Macht in seiner Steuerungsfunktion  behindert wird.

 

Stimmt also nicht! Das Internet ist kein Paradies freier Meinungsäußerung, in dem alles ohne Konsequenzen veröffentlicht werden kann. Vielmehr werden Onlineäußerungen durch ein komplexes Governance-System aus Gesetzen, Normen, gesellschaftlichen Standards, Interessenverbänden, künstlicher Intelligenz und dem Markt geregelt. Die Frage ist nicht, ob man online sagen kann, was man will – was nicht der Fall ist –, sondern vielmehr, wie man das System der freien Meinungsäußerung so gestalten kann, dass es effektiver und menschenrechtssensibler angewandt wird.

 


Quelle: Emily Laidlaw, Regulating Speech in Cyberspace: Gatekeepers, Human Rights and Corporate Responsibility (Cambridge University Press, 2015); David Kaye, Speech Police: the Global Struggle to Govern the Internet (Columbia Global Reports, 2019).