Mythos #08: Policy-Entwicklung im Internet beruhte schon immer auf dem Multi-Stakeholder-Ansatz.
Roxana Radu

Mythos: Der dezentrale Charakter des Internets bedingt die Einbeziehung verschiedener Interessengruppen wie beispielsweise von Regierungen, der Industrie und der Zivilgesellschaft. Im Gegensatz zu anderen, von zwischenstaatlichen Ansätzen geprägten Politikfeldern war das Internet von Anfang an ein Synonym für Multi-Stakeholder-Governance und bot allen Beteiligten Mitsprachemöglichkeiten.

 

Stimmt’s? Viele Analysen von Internet Governance betonen nach wie vor den Multi-Stakeholder-Charakter als frühe Errungenschaft, dank derer Regierungen, Unternehmen, Fachkreise, Wissenschaft und Zivilgesellschaft an der Entscheidungsfindung teilnehmen können, sei es in beratender Funktion oder im Rahmen kollaborativer Bemühungen zur Formulierung von Regeln. Die Entscheidungen, die zur Finanzierung, Schaffung und Privatisierung des Internets führten, waren jedoch nicht das Ergebnis von Multi-Stakeholder-Prozessen, sondern wurden einseitig von der US-Regierung vorangetrieben. Das Internet wird derzeit von mehr als 300 maßgeblichen Instrumenten auf globaler und regionaler Ebene (und viel mehr auf nationaler Ebene) reglementiert und durch diverse Mechanismen gelenkt, von denen etliche ausschließlich der Kontrolle von Regierungen oder der Wirtschaft unterliegen.

Häufig dem klassischen Regulierungsmodell von Telekommunikation gegenübergestellt, wird das Multi-Stakeholder-Konzept gemeinhin als der beste Weg zur Regulierung des Internets angesehen, was als Ausdruck einer gewissen von der technischen Community in den ersten Tagen des Internets geschaffenen Dynamik zu sehen ist. In der Praxis wird das Multi-Stakeholder-Prinzip seit seiner Entstehung Mitte der 1990er Jahre am ehesten als eine Praxis der Verankerung in der Gesellschaft verstanden. Besondere Bedeutung kam der Beteiligung von Vertreter*innen verschiedener Sektoren während der Verhandlungen über die Verwaltung des Domain Name System (DNS) zu, das zuvor von einem Wissenschaftler der Stanford University (Jon Postel) in Eigenregie betrieben wurde. Aufgrund einer im Zuge der Multi-Stakeholder-Diskussionen geforderten Anweisung des US-Handelsministeriums wurde 1998 mit der ICANN eine neue gemeinnützige Organisation für diese Aufgabe gegründet. In der Folge führten auch zahlreiche andere Organisationen Multi-Stakeholder-Praktiken ein und betonten dabei besonders das breite Spektrum der von ihnen bedienten Interessen.

Im Lauf der Zeit erhielt das Multi-Stakeholder-Prinzip ein starkes normatives Fundament und wies einen unverwechselbaren Charakter auf. Ein Beispiel hierfür ist die sektorübergreifende Behandlung von Internet Governance-Themen in zwischenstaatlichen Kontexten, sowie die Arbeit von Normungsorganisationen. Die vielfältigen Formen des Multi-Stakeholder-Ansatzes (Raymond und DeNardis 2015) haben sich weiterentwickelt und sind mittlerweile weitgehend institutionalisiert. Über die Rhetorik hinaus ist die Multi-Stakeholder-Internet Governance aber nach wie vor ideologisch aufgeladen und birgt erhebliche Machtungleichgewichte zwischen den Stakeholder-Gruppen in sich. Das Versprechen einer gleichberechtigten Partizipation steht im starken Kontrast zu der aktuellen Praxis, die die Interessen einiger weniger privilegiert und dazu dient, die Entscheidungen maßgeblicher Akteure zu legitimieren. Institutionell wurde ein auf den „jeweiligen Rollen und Verantwortlichkeiten“ basierender Ansatz im Ergebnisdokument des UN-Gipfels über die Informationsgesellschaft im Jahr 2005 formell verabschiedet und bei seiner Überprüfung nach zehn Jahren (WSIS+10) erneut bestätigt. Andere globale Treffen wie beispielsweise das jährliche Internet Governance Forumoder NETMundial 2014 haben seither Verfahrensverbesserungen vorgeschlagen.

 

Stimmt also nicht! Das Multi-Stakeholder-Prinzip ist die seit den 1990er Jahren von der Internet Governance-Community angewandte vorherrschende Praxis. Trotz der großen Attraktivität des Multi-Stakeholder-Prinzips sind die wichtigsten internetpolitischen Entscheidungen und die die Entwicklung des Internets prägenden globalen, regionalen und nationalen Regeln nur selten das Ergebnis von Multi-Stakeholder-Prozessen, die Regierungen, die Industrie und die Zivilgesellschaft gleichberechtigt in ihrer jeweiligen Rolle einbeziehen.

 


Quelle: Roxana Radu, Negotiating Internet Governance (Oxford: Oxford University Press, 2019); Mark Raymond und Laura DeNardis, Multi-Stakeholderism: Anatomy of an Inchoate Global Institution, International Theory, 7 (2015) 3, 572‑616.