Vorwort

Vint G. Cerf

Vinton G. Cerf
Vinton G. Cerf, der gemeinhin als einer der „Väter des Internets“ gilt, ist VP und Chief Internet Evangelist von Google. Er ist einer der Mitbegründer von ICANN und war von 2000 bis 2007 Chairman of the Board. Ihm wurden zahlreiche Ehrendoktortitel verliehen, und er wurde unter anderem mit der National Medal of Technology, dem Turing Award und der Presidential Medal of Freedom ausgezeichnet.

Dies ist eine breitgefächerte Sammlung von Meinungen über das Internet und verschiedene Wahrheiten und Mythen über seinen Betrieb, seine Nutzung und seine Auswirkungen. Obwohl ich nicht mit allen in dieser Sammlung enthaltenen Beschreibungen einverstanden bin, ist es meines Erachtens doch wichtig, sich mit Behauptungen über das Internet und seine Anwendungen auseinanderzusetzen, sowohl um Missverständnisse auszuräumen als auch um zu verstehen, wie einige dieser falschen Darstellungen zustande gekommen sind. Einige beruhen auf einer Art enthusiastischer Hybris hinsichtlich der Unabhängigkeit des virtuellen Raums, der, wie sich bei näherer Betrachtung herausstellt, enger mit der physischen und politischen Welt verbunden ist, als man meinen würde. Andere wiederum kommen mir wie Vorwände dafür vor, Positionen einzunehmen, die den nützlichen Anwendungen des Internets von heute schaden. Die Leserinnen und Leser sollten an diese Analysen mit der Motivation herangehen, nützliche Wahrheiten über das komplexe Gebilde herausfinden, das das Internet mittlerweile ist. Die Umsetzung und Nutzung des Internets hängt erheblich von der jeweiligen Gesetzgebung sowie von der physischen Infrastruktur, der Kultur, von gesellschaftlichen Normen und der zur Verfügung stehenden Technologie ab. Die „Mythen“ müssen im Kontext überprüft und bewertet werden, um sie richtig verstehen und beurteilen zu können.

Ich bin angesichts meiner langjährigen Beteiligung an vielen Aspekten der Entstehung und Weiterentwicklung des Internets ganz offensichtlich voreingenommen, aber ich glaube weiterhin, dass das Internet als Plattform eine außergewöhnliche Quelle für Informationen, Innovationen und Zusammenarbeit ist und bleiben wird. Das World Wide Web, das über der Internet-Infrastruktur liegt, hat ein Füllhorn von Anwendungen und einen Informationsfluss vergleichbar mit der Erfindung der Druckerpresse hervorgebracht. Die einmalige Flexibilität der zugrundeliegenden Recheninfrastruktur bietet jedoch ein Universum an Funktionalitäten, das in der statischen Form des Drucks nicht erreicht werden kann. Inhalte können in einer Art und Weise gesucht, übersetzt, strukturiert, umfunktioniert und angepasst werden, die nur dort an Grenzen stößt, wo wir nicht dazu fähig sind, uns Software zur Umsetzung neuer Fertigkeiten auszudenken und zu schreiben.

Der Überfluss an Informationen, die man im Internet findet, stellt für Nutzerinnen und Nutzer eine Bürde dar: Sie müssen Qualität, Genauigkeit und Wahrheitsgehalt der Informationen kritisch unter die Lupe nehmen. Das ist aufwändig und in gewisser Weise der Preis, den wir für die Informationsfreiheit der Online-Welt zahlen müssen. Diese Freiheiten sind jedoch gefährdet, eben weil das grenzenlose Internet mehr in die politische Landschaft eingebettet ist, als es seine begeisterten Befürworterinnen und Befürworter gerne hätten. Der Vorteil der Entzauberung von Mythen besteht darin, dieses bemerkenswerte Umfeld durch eine realistische Linse zu betrachten, und die dadurch entstehende Schärfe kann dazu beitragen, dass wir den Weg in Richtung eines Internets einschlagen, dessen Vorteile seine Defizite konsequent wettmachen können.

Wolfgang Schulz
Prof. Dr. Wolfgang Schulz ist Direktor des Leibniz-Instituts für Medienforschung | Mitglied im Direktorium des Hans-Bredow-Instituts (HBI), Hamburg; Universitätsprofessur „Medienrecht und Öffentliches Recht einschließlich ihrer theoretischen Grundlagen“, Universität Hamburg, Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für die Freiheit von Kommunikation und Information, Universität Hamburg; Forschungsdirektor des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft (HIIG), Berlin.

In dieser komplexen digitalen Welt brauchen wir – Bürgerinnen und Bürger, Politikerinnen und Politiker und Führungskräfte der Wirtschaft – Bilder und Texte, die uns dabei helfen, die Welt, in der wir leben, zu verstehen. In den meisten Fällen reicht es uns, dass diese plausibel sind. Häufig können wir nicht überprüfen, ob sie wahr sind, und wir begnügen uns mit der Schlüssigkeit einer schönen Analogie oder der Faszination eines Konzeptes, das uns komplexe Entwicklungen zugänglich macht.

Die Echokammer, einer der in diesem Buch beschriebenen Mythen, ist ein gutes Beispiel dafür. Bei der Eröffnung von Konferenzen fällt fast immer der Satz „Wir alle leben in Echokammern“. Das klingt plausibel, hat aber einen kleinen Schönheitsfehler – es stimmt nicht, zumindest nicht in diesem weiteren Sinne. Es wurde gezeigt, dass es – zumindest in Deutschland, wo die Mär von der „Echokammer“ sehr verbreitet ist – richtige Echokammern nur für kleinere extremistische Gruppen gibt, nicht aber für die Gesellschaft insgesamt. Die meisten Menschen möchten weiterhin Teil eines allgemeinen „gesellschaftlichen Diskurses“ sein und nutzen ein breites Spektrum an Medien, um sich zu informieren.

Für das Internet, die Dienste und sozialen Kontakte, die das Internet ermöglicht, ist diese Abhängigkeit von schlüssigen Beschreibungen, Metaphern und Erläuterungen besonders stark. Das Internet ist nicht greifbar, die Kommunikation über Netzwerke basiert letztendlich auf Protokollstandards. Nichts könnte abstrakter sein, und dennoch könnte seine transformative Kraft kaum größer sein, mit all seinen Vorteilen und Nachteilen. Wir sind hier besonders von Bildern und Texten abhängig, um uns in diesem Gefilde zu orientieren, aber auch um geeignete Governance-Konzepte zu finden.

Alle, die mit diesen Metaphern, Bildern und Texten arbeiten, tragen diesbezüglich eine große Verantwortung. Dies gilt auch und vor allem für die Wissenschaft. Es reicht nicht, einzelne Studien durchzuführen, die die These von Echokammern widerlegen und ausgeklügeltere Konzepte anbieten. Diese Konzepte müssen auch in einer Art und Weise übertragbar sein, so dass sie in den gesellschaftlichen Diskurs eingebunden werden können. Ansonsten wird der verbreitete Mythos weiter bestehen, auch wenn einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wissen, dass er empirisch falsch ist. Den Autorinnen und Autoren sowie den Herausgebern dieses Buches gebührt unser Dank – nicht nur dafür, dass sie die Aufmerksamkeit auf diese Herausforderung lenken, sondern auch dafür, dass sie sofort mit deren Bewältigung beginnen.

Wolfgang Schulz