Mythos #02: Im Internet gilt kein Völkerrecht.
Matthias C. Kettemann
Mythos: Da anders als beispielsweise im Fall des Pariser Klimaschutzabkommens kein internationaler Vertrag im Hinblick auf das Internet existiert, gilt das Völkerrecht nicht für internationale Akteure und ihre Beziehungen im und über das Internet. Staaten können online tun, was sie wollen.
Stimmt’s? Richtig ist: Es gibt nicht den einen internationalen Vertrag zur Regulierung des Cyberspace. Ungeachtet dessen gilt jedoch das Völkerrecht in vollem Umfang für das Internet und schützt dessen Sicherheit, Stabilität, Robustheit, Widerstandsfähigkeit und Funktionalität – d. h. seine Integrität – als Schutzgut von allgemeinem Interesse. Bereits der 2013 veröffentlichte Bericht der Gruppe von Regierungsexperten der Vereinten Nationen, der auf den Dokumenten der Weltinformationsgipfel von Genf und Tunis aufbaut, bestätigte, dass die Anwendung von aus geltendem Völkerrecht abgeleiteten und für die Nutzung von IKT durch Staaten relevanten Normen „eine wesentliche Maßnahme zur Verringerung der Risiken für Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Welt ist“. In ihrem Bericht aus dem Jahr 2015 schrieb die Gruppe darüber hinaus der Selbstverpflichtung der Staaten zu bestimmten Grundprinzipien der Satzung der Vereinten Nationen und anderen Elementen des Völkerrechts zentrale Bedeutung zu. Dazu gehören souveräne Gleichheit, das Verbot der Androhung oder Anwendung von Gewalt, die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.
Neben dem Völkergewohnheitsrecht gelten auch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts im Internet. Hierzu gehören die durch vertrauens‑ und kapazitätsbildende Maßnahmen umzusetzenden Grundsätze der Sorgfaltspflicht und guter Nachbarschaft.
Ergänzend besteht auch ein normatives Argument für die Anwendung des Völkerrechts auf das Internet: Es ist „zwingendes“ Recht. Das Völkerrecht ist die einzige Normensammlung, die als legitime Grundlage für eine internationale Ordnung dienen kann, auf deren Grundlage die Ausübung internationaler öffentlicher Gewalt legitimiert und die Verteilung von Gütern und Rechten diskutiert werden kann.
Der öffentliche Kern des Internets und die für seinen Betrieb benötigten Server sind einerseits für den Betrieb kritischer Infrastrukturen (beispielsweise Stromnetze) unerlässlich und stellen andererseits selbst kritische (Informations‑)Infrastrukturen dar. Der Schutz der Integrität des Internets (seine Sicherheit, Stabilität, Robustheit, Widerstandsfähigkeit und Funktionalität) ist zu einem wesentlichen Ziel des Völkerrechts geworden und kann nur durch dieses gewährleistet werden.
Das Völkerrecht des Internets stellt auch den Rahmen, innerhalb dessen Konzepte der Internet Governance realisiert werden, d. h. der „Praxis“ der Regulierung des Internets (# 1). Ihre Relevanz beruht auch auf der Tatsache, dass im Internet das Thema der Rechtmäßigkeit/Gesetzwidrigkeit oftmals ein unzutreffendes Gegensatzpaar ist. Während das Gesetz traditionell auf diese Dichotomie abstellt, ermöglichen Governance-Normen die Entwicklung von kritischen Ansätzen an Konzepte wie Verantwortung und Verantwortlichkeit: Online existieren viele Nuancen von Legalität. Angesichts der Dynamik des Internets ist diese variable Normativität ein zentrales Merkmal normativer Evolution.
Stimmt also nicht! Auch ohne einen internationalen Internet-Vertrag gilt das Völkerrecht in vollem Umfang für internetbasierte Informations‑ und Kommunikationsströme und die diesen zugrundeliegende Infrastruktur. Völkergewohnheitsrechtliche Regeln, darunter das Prinzip der Nichteinmischung, sowie allgemeine Grundsätze des Völkerrechts, wie beispielsweise der Grundsatz der gebotenen Sorgfalt, bilden den normativen Rahmen für das Verhalten internationaler Rechtssubjekte. Internet Governance ergänzt das Völkerrecht.
Quelle: Group of Governmental Experts Group of Governmental Experts on Developments in the Field of Information and Telecommunications in the Context of International Security, VN-Dok. A/70/174 vom 22. Juli 2015; Matthias C. Kettemann, The Common Interest in the Protection of the Internet: An International Legal Perspective, in Benedek/de Feyter/Kettemann/Voigt (Hrsg.), The Common Interest in International Law (Antwerpen: Intersentia, 2014), 167‑184.