Mythos #46: Das Internet vergisst nicht.
Stephan Dreyer

Mythos: Was auch immer im Netz geschrieben, hochgeladen oder geteilt wird, bleibt auf ewig dort erhalten. Ein peinliches Foto von einer Schulparty kann die Aussicht auf einen Arbeitsplatz gefährden. Das Internet ist ein riesiges Archiv, das Wahrheiten und Lügen für immer bewahrt, was Folgen für unser ganzes Leben und unsere Erinnerungen hat.

 

Stimmt’s? Aufgrund seiner mehr oder weniger dezentralen Struktur, minimaler Kosten für digitale Kopien und dank Millionen von Nutzer*innen und lokaler Speichermedien bleibt Vieles viel länger im Internet und in unserer Erinnerung. Mithilfe allgemeiner und spezialisierter Suchmaschinen können wir viele Informationen über einen langen Zeitraum hinweg gezielt finden. Ganze Geschäftsfelder, die Dienstleistungen wie beispielsweise ein „Online-Reputationsmanagement“ anbieten, sind entstanden.

Das wohl bekannteste Dilemma aus diesem Bereich ist der sogenannte Streisand-Effekt: Indem man aktiv versucht, einen bestimmten Text, ein Bild oder ein Video aus dem Internet zu unterdrücken, lenkt man die Aufmerksamkeit auf genau diesen Versuch der Löschung von Inhalten und erhöht damit sogar noch die Bekanntheit dieser Informationen. Informationen, die zu irgendeinem Zeitpunkt viral waren, sind damit immer schwerer aus dem Internet zu löschen. Dies sind jedoch sehr spezielle und, gemessen an der Gesamtmenge der im Internet verfügbaren informationen, äußerst seltene Fälle.

Für die meisten Onlineinhalte gilt immer noch die vorherrschende Sicht, dass sie früher oder später verschwunden sein werden: Alle Analysen der Verfügbarkeit eines Korpus von Onlineressourcen belegen eine große Zahl „ungültiger Verweise“ und von „Linkrot“. Gründe für das Verschwinden einer Onlineressource oder ihrer Adressänderung sind unter anderem die Einstellung von Diensten oder Servern, die Entfernung einer Second-Level Domain (in letzter Zeit auch einer First-Level Domain), die Löschung oder Suspendierung von Nutzerkonten, die Löschung oder Verlagerung von Inhalten, geänderte Inhalte, die Ungültigkeit gekürzter Links, umgeleitete Links oder die Ungültigkeit eingebetteter Inhalte.

Darüber hinaus hat sich das Nutzer*innenverhalten mit Blick auf Selbstoffenbarung und Datenschutz im Allgemeinen in den letzten zehn Jahren stark verändert. Der Mythos hat bereits, beispielsweise in sozialen Netzwerken, zu eingeschränkteren Profilen und Konten geführt, was die öffentliche Verfügbarkeit peinlicher Fotos von Schulpartys deutlich verringert.

Nicht zu vergessen sind auch die Rechtsprechung und Regulierungsmaßnahmen, die das „Recht auf Vergessenwerden“ garantieren, sodass Suchergebnisse, die Persönlichkeitsrechte verletzen, entfernt werden (# 45). Das in der DSGVO geregelte Recht auf Löschung bestätigt dies, indem es den Betroffenen die Möglichkeit einräumt, einen Anspruch auf Löschung personenbezogener Daten auf Seiten des Verantwortlichen geltend zu machen.

Sowohl die endliche Anzahl von Ressourcen als auch die rechtlichen Instrumente zur Löschung bestimmter Inhalte im Internet zeigen, dass es sich dabei nicht um das ewig bestehende globale Informationsarchiv handelt, das viele Menschen annehmen. Tatsächlich bieten gewöhnliche Onlineinhalte keineswegs die besten Voraussetzungen für eine digitale Langzeitaufbewahrung.

 

Stimmt also nicht! Viele Dateien besitzen im Netz nur eine kurze Halbwertszeit, und viele Dienste und URLs sind langfristig nicht mehr erreichbar. Verstärkt werden diese Phänomene noch durch rechtliche Ansprüche auf Datenlöschung oder Auslistung aus bestimmten Suchergebnissen. Weder eignen noch lohnen sich viele Onlineinhalte für eine Langzeitarchivierung.

 


Quelle: Andrew Neville, Is it a Human Right to be Forgotten? Conceptualizing the World View, Santa Clara J. Int‘l L. 15 (2017), 157, https://digitalcommons.law.scu.edu/scujil/vol15/iss2/2; Shawn Walker und Sheetal Agarwal, The missing link: a preliminary typology for understanding link decay in social media, IConference Proceedings 2016, http://hdl.handle.net/2142/89413.