Mythos #35: Das Internet ist ein Internet.
Sebastian Gießmann

Mythos: Das Internet ist ein „Netzwerk von Netzwerken“. Es ist ein technischer, sozialer und wirtschaftlicher Verbund heterogener Netzwerke (interconnected networks). Das stellt weltweite Konnektivität und Interoperabilität sicher und beeinflusst Peer-to-Peer Networking und ermöglicht die Realisierung von demokratischen Werten in einem Netzwerk von Gleichberechtigten.

 

Stimmt’s? Das Internet, das wir haben, ist kein Internetworking heterogener Netzwerke, so kontraintuitiv es auch erscheinen mag. Netzwerkprotokolle sind Infrastruktur, und Infrastruktur ist langweilig und bürokratisch und wird in der Regel als selbstverständlich vorausgesetzt. Und dennoch wissen Entwickler*nnen und Administrator*innen von Netzwerkprotokollen um den gesellschaftlichen und relationalen Charakter digitaler Infrastrukturen und sind sich der politischen Risiken bei der Entwicklung von Netzwerkprotokollen bewusst (# 4). 2006 beschrieb der Informatiker David Reed in einem Interview die politischen Optionen von Protokollentwicklern in den 1980er Jahren wie folgt: „Tatsächlich war die Idee, ein Ding namens ,das Internet‘ (ein Urnetzwerk von Netzwerken) voranzutreiben, eine politische Entscheidung, nämlich dahingehend, dass universelle Interoperabilität möglich und wünschenswert sei. Dies ist ähnlich wie ,ein Europa‘ oder ‚die Weltregierung‘, jedoch nicht dasselbe. Die beteiligten Ingenieure waren sich der möglichen Auswirkungen auf der politischen Ebene dieser Entscheidung nicht bewusst“ (Reed in Gillespie 2006, 452). Reeds Argument ist auf eine gewisse Weise für die Werte typisch, die das Design von Internetprotokollen und deren Ende-zu-Ende-Architektur beeinflusst haben. Es verkennt auch eine wichtige historische Tatsache.

„Universelle Interoperabilität“ braucht Standardisierung, und Netzwerkprotokolle sind de facto Standards digitaler Vermittlung. Am 1. Januar 1983 führte das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika mit TCP/IP das Transmission Control Program/Internet Protocol als Standard ein. Universitäten in den USA begrüßten diese Richtlinie und den TCP/IP-Standard. Was hat dieser Übergang innerhalb des ARPAnets bewirkt? Nach Ansicht des Informatikers John Day ging bei dieser infrastrukturellen Verschiebung die Internetworking-Schicht tatsächlich verloren. Days zentrales Argument lässt sich, wenn auch nicht in seiner gesamten Detailtiefe, so zumindest doch in seinen Konsequenzen, mit der Frage umschreiben: „Wie zum Teufel kann man eine Schicht verlieren?“ Nach seiner Ansicht hat die Trennung von TCP und IP „dazu beigetragen, ein Internet lediglich dem Namen nach zu sein“ (Day 2013, 22).

Open Systems Interconnection (OSI) und andere Internetworking-Konzepte berücksichtigen, dass miteinander verbundene Netzwerke auf vollkommen unterschiedlichen Technologien und Adressierungsschemata basieren können (# 15). Das Internet Protocol hat jedoch lediglich einen einzigen Adressraum für alle verbundenen Netzwerke geschaffen, und das heute gebräuchliche Domain Name System wurde entlang dieser Pfadabhängigkeit geschaffen (# 38). Man kann nach wie vor jedes andere Netzwerk mit obskuren Protokollen mit dem Internet verbinden, solange es das herrschende IP-Adressierungssystem verwendet. Der Slogan der 1990er Jahre „IP für alles“ schuf kein Urnetzwerk von Netzwerken, sondern verstärkte vielmehr den Verlust von etwas, was in einer wissenschaftlich fundierten und technisch interoperablen Netzwerkarchitektur eine Internetworking-Schicht gewesen wäre. Derzeit müssen wir mit dieser Unzulänglichkeit leben. Das Internet ist kein Raum für eine heterogene Vernetzung von Heterogenität, sodass vielfach noch die Meinung herrscht: „OSI hatte eine Internetarchitektur, und das Internet hat eine Netzwerkarchitektur.“ (Day 2012, 15)

 

Stimmt also nicht! Seitdem die Internetworking-Schicht 1983 verloren ging, hängt die Architektur des Internets von einem homogenen Namensgebungs und Adressierungssystem ab. Das Domain-Name-System DNS tut genau das und schafft einen nahtlosen Raum für IP-Adressen, der zentral verwaltet werden muss, auch wenn die Domainregistrierung dezentral erfolgt. Das heutige Internet verbindet keine völlig heterogenen Netzwerke, sondern bleibt ein lediglich auf Namensgebungs und Adressierungsebene beruhendes Netzwerk. Wann bekommen wir also echtes Internetworking?

 


Quelle: John Day, How in the Heck Do You Lose a Layer!?, Future Network Architectures Workshop University of Kaiserslautern, 2012, https://www.researchgate.net/publication/261458332_How_in_the_Heck_do_you_lose_a_layer und John Day, Surviving Networking’s Dark Ages or How in the Hell Do You Lose a Layer!? (IRATI RINA Workshop, Barcelona, 2013), http://irati.eu/wp-content/uploads/2013/01/1-LostLayer130123.pdf; Tarleton Gillespie, Engineering a Principle: “End-to-End” in the Design of the Internet, Social Studies of Science 36 (3) (2006), 427- 457.