Mythos #04: Protokolle sind unpolitisch.
Corinne Cath-Speth
Mythos: Die technischen Standards und Protokolle, auf denen das Internet basiert, sind unpolitisch. Vielmehr handelt es sich dabei um neutrale, von unparteiischen Ingenieur*innen mithilfe unpolitischer Konsensmechanismen entwickelte Technologien, die lediglich das Ziel verfolgen, Informationsströme und Internetworking zu ermöglichen.
Stimmt’s? Die Politik der Protokolle ist durch den Nebel enigmatischer Internetstandardisierungsakronyme nur schwer zu erkennen. Die Vorliebe der Protokollentwickler für komplexe Abkürzungen wie beispielsweise Domain Name System (DNS) über Transport Layer Secure (TLS) oder DoT macht dies nicht unbedingt leichter. Einige Hintergrundinformationen: Das Internet läuft auf einer Reihe technischer Standards und Protokolle. Die erste Iteration des Internets ergab sich aus der Notwendigkeit, eine Möglichkeit zur Kommunikation zwischen unterschiedlichen Netzwerken zu schaffen (# 15). Internetprotokolle ermöglichten dieses „Internetworking“, indem sie eine standardisierte Art und Weise für den Informationsaustausch in Netzwerken schufen. Diese Protokolle werden von industriegeführten Standardisierungsgremien wie beispielsweise der Internet Engineering Task Force (IETF) entwickelt. Innerhalb dieser Organisationen herrscht vielfach die Ansicht, Protokolle seien unpolitisch, und Protokolle werden vielmehr als neutral angesehen, wobei die Art ihrer Nutzung durch den Menschen ihre moralischen und politischen Auswirkungen bestimmt.
Dies ist ein Mythos, geht er doch davon aus, dass diese technischen Organisationen irgendwie aus ihrem größeren Kontext herausgelöst und dass Protokolle neutrale Werkzeuge sind. Protokolle werden jedoch von Menschen erstellt, und diese kodieren ihre Werte, Ideologien und Annahmen (# 18, # 42). Protokolle haben durchaus eine politische Agenda. Die Frage ist: Wessen? Betrachten wir das Beispiel DoT: Seine Entwickler*innen gaben dem Datenschutz Vorrang vor dem kommerziellen oder staatlichen Zugriff auf Daten, die Auskunft darüber geben, welche Website die Nutzer*innen besuchen. Diese Priorisierung wiederum beeinflusst, wie Konflikte zwischen verschiedenen Interessengruppen (Regierungen, Industrie, Zivilgesellschaft) über Onlineinformationsflüsse entstehen.
Die inhärente „Politik der Protokolle“ ist kaum überraschend für jemanden, der ihre Auswirkungen sieht oder untersucht. In seinem bahnbrechenden Aufsatz aus dem Jahr 1980 zeigte Langdon Winner, dass Technologie nicht wertneutral ist, da sie Ausdruck unterschiedlicher moralischer und politischer Entscheidungen ist. Kürzlich argumentierte Laura DeNardis, dass Protokolle politisch sind, weil sie mithilfe von Technologie soziale und politische Werte vermitteln, die ihrerseits die Gesellschaft prägen. Ebenso betonen vom jeweiligen Protokolldesign betroffene Gruppen – unabhängig davon, ob sie spezifische Anliegen in Verbindung mit Rechten von Menschen mit Behinderung in Bezug auf die Barrierefreiheit von Websites oder allgemeine Menschenrechtsfragen wie beispielsweise den Datenschutz vertreten – die den Protokollen inhärente Politik. Gleichwohl hält sich in der technischen Community vielfach noch der Mythos, dass Protokolle keine politische Agenda haben, manchmal zum Nachteil der Internetnutzer*innen.
Stimmt also nicht! Die Behauptung, dass Protokolle unpolitisch seien, ist bereits eine Form von Politik, impliziert sie doch ein Bekenntnis zum – oftmals den Werten und Interessen der Industriestaaten entsprechenden – Status quo und begünstigt die weitere Standardisierung des Internets. Auch wird hierbei übersehen, wie die Standardisierung des Internets in unterschiedlichen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Kontexten erfolgt. Protokolle sind politisch und es bedarf einer weiteren kritischen Auseinandersetzung mit den Folgen dieser Politik.
Quelle: Laura DeNardis, Protocol Politics: The Globalization of Internet Governance (Boston: MIT Press, 2013); Corinne Cath und Luciano Floridi, The Design of the Internet’s Architecture by the Internet Engineering Task Force (IETF) and Human Rights, Science and Engineering Ethics 23 (2017) 2, 449‑468.